Man muss nur vor die Haustür gehen, um Neues zu entdecken. Was Kinder bereits auf den ersten Metern schaffen, und mit ihrer Hilfe auch manche Erwachsene, lässt sich auch gut auf Fahrrad-Distanzen übertragen. So war ich drei Tage mit Rad und Hängematte unterwegs und dabei nie über 35 km Luftlinie von zuhause entfernt. Bisher Unbekanntes gab es dabei tatsächlich viel.
Am Vorabend der Tour wollte ich packen, um am nächsten Tag nach der Arbeit direkt auf das Rad steigen zu können. Stattdessen bin ich fast daran verzweifelt, meinen zum zweiten Mal geflickten Hinterreifen wieder auf die Felge zu bekommen. Packen also erst am Nachmittag vor der Abfahrt. Praktischerweise hat es da dann sowieso geregnet. Gegen 18 Uhr ging es dann fertig bepackt und ohne Regen los zum Läuseküppel. Der Trekkingplatz Läuseküppel im Naturpark Habichtswald war bereits Ziel meines ersten Overnighters im vergangenen Jahr. Die Route war diesmal natürlich eine andere. Die Langen Berge habe ich im Norden umfahren und kam so auf den Pfad oberhalb der Langenberger Hute bei Breitenbach. Die tief stehende Sonne und dazu eine kleine Schafherde verzauberten mich völlig. Eine tolle Neuentdeckung dachte ich in diesem Moment. Tatsächlich bin ich hier vor etwa zwei Jahren schon einmal vorbeigekommen. In entgegengesetzter Richtung und zu einer anderen Tageszeit. Als Zwischenstopp auf meiner Strecke hatte ich noch den Falkenstein geplant. Dort holte ich mir den letzten fehlenden (digitalen) Stempel zum Mittelgebirgsstürmer.












Nachdem ich in Sand meine Wasservorräte aufgefüllt hatte, ging es die letzten Meter hinauf zum Läuseküppel. Das Aufbauen von Hängematte und Tarp funktioniert mit den dort vorhandenen Pfosten einfach und schnell. Der Esbit-Kocher sorgte noch für eine warme Mahlzeit, bevor ich es mir in der Hängematte gemütlich machte. Ich war schon lange nicht mehr so entspannt und freudig mit dem Fahrrad unterwegs gewesen.





Am nächsten Morgen hatte ich um 8 Uhr bereits alles zusammengepackt und stieg aufs Fahrrad. Erstes Ziel: Die Bäckerei Oliev in Sand, um die Vorräte für den Tag aufzufüllen. Direkt nachdem ich den Ort verlassen hatte, gab es einen ersten ungeplanten Abstecher zur Kriegsgräberstätte Bad Emstal. Ich finde es spannend, wie unterschiedlich solche Orte aussehen können, abhängig davon, von wem sie wann und für wen angelegt wurden. In diesem Fall wurde der Friedhof 1958 eingeweiht und alle Gräber wurden extra hierher verlegt. Bei den Toten handelt es sich vorwiegend um Soldaten des NS-Regimes und Zwangsarbeiter*innen. Der Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge hat mehrere Einzelschicksale recherchiert, die auf Infotafeln an den Gräbern präsentiert werden. Neben den „klassischen“ Schicksalen gibt es auch solche Kuriositäten wie einen jungen Schweden, der zur Waffen-SS wollte, bevor er seine Ausbildung beginnen konnte, jedoch in Merxhausen an einer Lungentuberkulose gestorben ist. Durch das beschauliche Tal der Ems ging es weiter bis Riede. Inspiriert vom Bergpark Wilhelmshöhe begann der dortige Schlossherr um 1770, einen Landschaftspark anzulegen. Spontan erweiterte ich meine Route erneut, um mir einige Überreste dieser Anlagen anzusehen. Eine Kapelle am Waldrand ist schon von weitem zu sehen. Dahinter liegen die Überreste einer Eremitage. Alles erreichbar über einen geschmeidigen Singletrail. An der Grillhütte Riede gibt es eine wunderschöne Aussicht über den Chattengau und eine Regenpause für mich. Sogar mit trockenen Schaukel unter der Baukrone.













Zu diesem Zeitpunkt hatte ich in zwei Stunden ganze 11 km zurückgelegt. Und während ich mir im Voraus noch Gedanken gemacht hatte, wie ich einen ganzen Tag zwischen Läuseküppel und Lärenberg (18 km Luftlinie) verbringen soll, begann ich nun langsam, diese Freiheit genießen zu können. Ein kleiner Abstecher nach hier oder eine Pause dort? Kein Problem! Die Zeit für die Strecke war großzügig bemessen und ein zu spät kommen quasi unmöglich.
Nachdem der Regen weitergezogen war, ging es weiter. Ein Obelisk, der Strohtempel und der Aussichtsturm auf dem Klauskopf warteten. In Elbenberg eine Runde um das nächste Schloss und weiter nach Naumburg. Dort stattete ich zuerst dem Garten der Hummelwerkstatt und der angrenzenden Streuobstwiese einen Besuch ab, bevor es an der Eisdiele einen schnellen Espresso gab. Den zwischenzeitlich machte ich mir fast schon Sorgen, wie ich die 70 km heute überhaupt noch schaffen soll. Zu Fuß ging es noch die Treppen zum Burgberg hinauf, bevor es für über 15 km in den Wald ging. Dort gab es einen alten Hohlweg, eine fünfstämmige Buche und jede Menge alte Grenzsteine. Ab den Zweiherrensteinen wollte ich dem Bonifatiuspfad folgen. Ohne die Markierungen war dort aber kaum ein Pfad erkennbar und so wechselte ich auf den parallel verlaufenden Forstweg. Ein Stück später versuchte ich es erneut und die Sichtbarkeit des Bonifatiuspfads war deutlich besser.
























Mit der Abfahrt an die Eder wechselte das Landschaftsbild völlig. Die Säulenförmigen Bäume in der Ferne weckten gar Toskana-Feeling. Auf feinem Schotter folgte ich ein Stück dem Eder-Radweg, bevor es am Kiosk Ideal Zeit für die nächste Pause war. Limo und Pommes für mich, Strom für iPhone und Wahoo. Das Kiosk mit dem zugehörigen Zeltplatz wird erst seit Frühjahr von den neuen Eigentümern betrieben, liegt direkt am Radweg und bekommt von mir eine Empfehlung. Am Affolderner See war es dann wieder vorbei mit entspanntem Flussradwegradeln. Es ging hinein in den Nationalpark und hinauf in den Wald. Aber nur kurz, bis es hinab nach Hemfurt ging. Dort nutzte ich die Edersee Elli 2.0, um meine Vorräte an Nüsschen aufzufüllen. Es handelt sich dabei quasi um einen 17/6 Selbstbedienungs-Supermarkt und der Zutritt erfolgt mittels Bankkarte. Auch ein spannendes Konzept und ähnlich dem von Tante Enso auf unserem Radwoche-Overnighter.










Nachdem ich die Eder erneut überquerte, war auch erneut Schieben angesagt. Denn unabhängig von der Steigung des schmalen Pfads und der quer liegenden Bäume ist hier Radfahren verboten. Der Weg hinauf zur kleinen Kanzel und zur Kanzel rentiert sich in meinen Augen dennoch. Die Aussicht auf Edertalsperre und Schloss Waldeck ist einfach einmalig. Schloss Waldeck war dann auch mein nächstes Ziel. An einem warmen Freitagnachmittag hätte ich dort eigentlich mit Touristenmassen gerechnet. Stattdessen war es während meiner Tour auffällig ruhig um den gesamten Edersee herum. In der Altstadt von Waldeck gab es noch ein Eis, bevor der letzte Schlenker des Tages anstand. Zügig ging es über einen grünen Pfad hinab zum Ederseebahn-Radweg, denn ich wollte das Selbacher Viadukt auch einmal von oben erleben. Von unten war es mir auf meinem Overnighter im vergangenen Oktober aufgefallen. Von dieser Tour kannte ich auch das pittoreske Reiherbachtal, das mich nach Nieder-Werbe und zurück zum Edersee brachte. Der Weg hinauf zum Trekkingplatz war noch ein würdiges Abschluss-Highlight für den Tag. Schiebend, es war zu steil, folgte ich dem Urwaldsteig auf dem steilen Hang über dem Edersee. Im Licht der tief stehenden Sonne einfach bezaubernd. Von den schönsten Stellen gibt es nur in meinem Herzen Bilder, da sich der Handyakku schon verabschiedet hatte.




















Ziemlich genau 12 Stunden nach meiner Abfahrt am Läuseküppel kam ich so am Trekkingplatz Lärenberg an. Der Aufbau des Nachtlagers gestaltete sich hier etwas schwieriger. Keine Pfosten wie am Läuseküppel, das Dach nicht groß genug wie am Fürstenberg und die Bäume im Hintergrund nicht erreichbar. Letztendlich konnte ich dann zwischen einem Baum und dem Klohäuschen hängen. In den Bewertungen zum Trekkingplatz wird auch mehrfach erwähnt, dass es schwierig ist, einen ebenen Platz fürs Zelt zu finden. Das kann ich nach meinem Besuch ebenfalls verstehen. Aber ich hatte ja genug Zeit. Schon beim Essen beobachtete ich, wie sich schräg über die Wiese ein Jäger auf seinem Hochsitz einrichtete. Meine Meinung von der Jagd ist nicht besonders hoch und als er sein Gewehr anlegte, erschien mir das Ganze noch abstruser. Als ich mich gerade für die Hängematte umziehen wollte, bewegte sich der Jäger von seinem Ansitz herunter und auf dem Weg in meine Richtung. In eigentlich guter Absicht. Er werde dort noch einige Stunden sitzen. Auch in der Dunkelheit. Und dann könnte es kurz laut werden. Der Weizen ist gerade in der Milchreife und die Wildschweine verursachen dann Schäden… Wie gut, dass der deutsche Weizen und die Welternährung durch tapfere Jäger bis in die Dunkelheit verteidigt werden. Ich konnte die Nacht ganz ohne lauten Knall verbringen.


Der nächste Tag startete mit einem beeindruckenden Blick, bereits direkt aus der Hängematte heraus. Die Sonne zeigte auch direkt, was der Tag bringen würde. Ich hatte mir für den dritten und letzten Tag meiner Tour drei Varianten überlegt. Zum Bahnhof in Korbach, zum Bahnhof in Twiste oder über Twiste hinaus bis nach Bad Arolsen. Bereits am Vorabend hatte ich mich für die Route nach Twiste entschieden, mit der Option, spontan zu verlängern. Denn der Weg nach Korbach wäre hauptsächlich auf bereits bekannten Wegen verlaufen. Meine Fahrt startete mit einer rasanten Abfahrt zurück nach Nieder-Werbe. Das Tal der Werbe führte mich auf schattigen Wegen nach Ober-Werbe. Neben den Überresten eines Klosters thront auch der Langenstein über dem Dorf. Zwei ungeplante Sehenswürdigkeiten, die ich mir natürlich nicht entgehen lassen konnte. Über die Felder ging es nun hinauf nach Sachsenhausen. Dort sorgte der Supermarkt für das zweite Frühstück und eine kalte Kola. Bis Höringhausen ging es noch einmal den Ederseebahn-Radweg, und auch an diesem sonnigen Morgen war dort kaum jemand unterwegs. Auf halbem Weg nach Strothe erwartete mich dann ein weiteres dieser unscheinbaren Highlights, für die ich so gerne mit dem Rad unterwegs bin. Ein Haferfeld voll Kornblumen. Wann habe ich zuletzt so etwas gesehen? Ich kann es nicht sagen. Bis Twiste ging es dann noch mal durch den Wald.






















In Twiste hatte ich noch großzügig Zeit bis zum nächsten Zug, Lust zum Weiterfahren, aber großen Bedarf nach einer Toilette. In Twiste scheint nicht viel los zu sein, aber es gibt den Fleischer-Imbiss an der Bundesstraße. Meine Rettung. So beschloss ich, ganz anders als geplant, entspannt dem Twiste-Radweg bis Volkmarsen zu folgen. Mit Eis-Stopp am Twistesee natürlich. Ich plante dafür, einen oder zwei Züge später zu fahren. Vor Külte stand ich dann am Bahnübergang und vor mir fuhr der Zug, den ich schon in Twiste hätte nehmen können. Auf so einem Flussradweg ist man eben deutlich schneller unterwegs als auf einem kaum zu findenden Wanderweg. So stand ich kurz darauf in Volkmarsen mit 45 Minuten Zeit bis zum nächsten Zug. Nach einem Blick in die Karte entschloss ich mich, der Erpe folgend weiter bis nach Ehringen zu fahren. Dort beendete ich meine Fahrt am Bahnhof endgültig.





Aktuell beschäftigt mich das Thema, was und wie ich eigentlich gerne fahren möchte. Am Wochenende zuvor versuchte ich mich bei viel zu hohen Temperaturen daran, die 100 Meilen (160 km) zu knacken. Ich habe zweimal lecker gegessen, musste mich zwischenzeitlich aber wirklich quälen. Das Ultra-Cycling und die langen Bikepacking-Rennen faszinieren mich nach wie vor. Zumindest im Moment, mit zwei kleinen Kindern und einem vollen Alltag, scheinen mir 150 km in drei Tagen, mit zahlreichen Entdeckungen und Erlebnissen, jedoch die passendere Freizeitbeschäftigung zu sein. Teilweise sorgen selbst Feierabendrunden in der Gruppe zurzeit für mehr Stress als Entspannung. Ich freue mich, diese drei Tage erlebt zu haben und versuche weiterhin darauf zu achten, welche Form des Radfahrens mir tatsächlich Freude bringt.